Casper – Alles War Schön Und Nichts Tat Weh

Review: Auf AWSUNTW erzählt Casper so viel und ausführlich tragische Geschichten wie noch nie. Gerade das gehört zu den Stärken des Albums.

Es ist ein alter Leitsatz: Des großen Künstlers Leid, ist der kleinen Hörer*innenschaft Freud. Es ist auch ein wahrer Leitsatz. Immerhin interessiert sich der Mensch für Negatives mehr als für Positives. Das belegen wissenschaftliche Studien. „Negativity Bias“ nennt die Psychologie dieses Phänomen, das bitterböse Medien im digitalen Zeitalter reichlich bedienen. Doch die großen Medienhäuser, deren Missbrauch dieser Eigenart der menschlichen Psyche durchaus weitreichende Folgen haben kann, sind damit nicht allein. Auch Casper, Rapper und Lebensretter des deutschsprachigen Indie, erzählt auf seinem neuen Album „Alles War Schön Und Nichts Tat Weh” von den harten Seiten der Existenz – auch wenn der Ausgang doch gelegentlich ein guter ist.

In seinen Songs Geschichten vermitteln, das vermochte Casper schon immer. Auf seinem Durchbruchs-Album „XOXO” zum Beispiel befindet sich mit „Michael X” ein Lied über einen alten Freund, der Suizid beging. In bildgewaltiger Sprache spricht er dort von gemeinsam eingenommenen Haltungen gegenüber der Welt und dem Leben, blickt zurück und ins Jetzt gleichsam. Erstmalig bleiben die geschilderten Erlebnisse jedoch nicht nur vage Bilder und lose Andeutungen, erstmalig beschreibt Benjamin Griffey, wie der in den USA aufgewachsene Casper bürgerlich heißt, konkrete Situationen, macht Handlungsstränge auf. Ein Resultat dieses Öffnungsprozesses ist „Billie Jo”. Dort berichtet Casper über ein oftmals lautstark groovendes Rock-Brett von einem Army-Soldaten, der nach seinem Einsatz vom Traumata und Drogensucht geplagt wird und im Wahn seine kleine Familie und später auch sich selbst tötet. Die ermordete Frau des Soldaten war eine Cousine Griffeys, der Song trägt ihren Namen. „Wann ist ein Haus ein Heim?”, stellt Casper die Frage danach in den Raum, wie man solch unvorstellbares Unglück begreifen und verarbeiten soll, wo man sich scheinbar nichtmal in den eigenen vier Wänden sicher und geborgen fühlen kann. Jedes Wort, jede Silbe sitzt in diesem Stück.

Ähnliche Posen hatte in der Vergangenheit auch bereits die US-amerikanische Hardcore-Band La Dispute eingenommen. Die behandelte in ihren teils gedichtsähnlichen Texten immer wieder Verbrechen – in „King Park“ etwa eine Drogen-Schießerei mit unglücklichem Ausgang, in „Edward Benz, 27 Times“ ein Familiendrama. Von einem Song wie eben „Billie Jo“, oder auch „Fabian“ und „Das Bisschen Regen (Die Vergessenen Pt.4)“ unterscheiden die sich zweierlei: Zum einen in den vielen Perspektivwechseln die La Dispute-Texter Jordan Dreyer einnimmt. Wie fühlt sich Protagonist A? Wie nimmt Protagonistin B die Szenerie wahr? Casper konzentriert sich vor dem Hintergrund mehr auf das verständliche Wiedergeben des Geschehenen. Zum anderen in dem persönlichen Bezug, den Casper zu seinen (beinahe) Tragödien hat. Das gilt auch für „Fabian“, der sich schrittweise an der Blutkrebs-Erkrankung eines engen Freundes Griffeys abarbeitet – vom Verdachtsmoment über die zermürbende Gift-Therapie hin zu der plötzlichen Heilung. Zu Tränen rührend ist das – auch weil die über sieben Minuten lang auserzählte Geschichte schlussendlich doch gut ausgeht. Max Rieger, nihilistische Stimme aus dem Off bei der Post-Punk-Band Die Nerven und Produzent des Albums, untermalt das ganze mit einem hellen, pompbehafteten Chor-Instrumental.

Diese intim-auserzählten und poetisch-ausformulierten Storytelling-Songs bleiben die stärksten auf AWSUNTW. Ihnen gegenüber stehen vagere Love-Songs mit Bezugnahme auf psychische Abgründe (sehr gut: “Wo Warst Du”) sowie euphorische, nahezu lebensbejaende Momente. Immerhin: Der Inhalt muss ja auch seinem bereits popkulturell vielfach rezitierten Titel (Vonnegut, Moby, Muff Potter) gerecht werden. „Lass Es Rosen Für Mich Regnen“ etwa ist die Hymne für die großen Bühnen, die „Casper Bumayé” 2008 sein wollte. Dessen Chorus – er fordert vor Festivalbühnen in den Sommerhimmel gereckte Fäuste – sieht Provinz-Stimme Vincent Waizenegger gegen meterdicke Gitarrenwände ansingen, in den Strophen textet sich Casper Denkmähler in die Innenstadt der Wahlheimat Bielefeld und zelebriert vor allem eines: Sich selbst. Zum Schluss darf für einem letzten besinnlichen Abklang dann noch Lena Meyer-Landrut zu Streicher und Klavier-Begleitung an das Mikrofon treten. 

Generell: Kollaboriert wird auf dem fünften Casper Album so viel wie noch nie. Es gab Songwriting-Sessions mit befreundeten Musiker*innen, an denen man auch gemeinsam an Texten schraubte. Zwei große Feature-Songs – „TNT” mit Tua sowie „Mieses Leben / Wolken” mit und von Haiyti – sind außerdem schon lange vor Veröffentlichung des Albums ausgekoppelt und mit dem Bon Iver-meets-Kanye-Querschlag „Euphoria” hat man auch noch einen Song mit Beatsteaks-Sänger Arnim Teutoburg-Weiß in der Hinterhand. Rappen tut dann aber keines der Features – abgesehen von Felix Brummer. „Gib Mir Gefahr“ heißt der gemeinsame Song, der den Kraftklub-Sänger und Griffey ihre körperlichen Grenzen ausloten lässt. Fast hat man dort das Gefühl die beiden sehnen sich die Eskapaden der Vor-Pandemie-Zeiten zurück. Live wird das sicherlich zünden, im gemütlich ausgeleuchteten WG-Zimmer lässt sich diese Energie jedoch nur erahnen.

In diesen Umgebungen entfalten sich gerade die eingangs erwähnten schweren Stücke vollends. Wenn Griffey in „Das Bisschen Regen (Die Vergessenen Pt.4)“ etwa mit in die Zeiten des Hurrikan Katrina nimmt, der die amerikanische Golfküste 2005 verheerend traf, während sich die Gitarren unter ihm bedrohlich auftürmen, dann gehen Musik und Text wunderbar Hand in Hand. Schlucken muss man beim Hören trotzdem, denn leicht verdaulich ist das alles nicht. Statt wie bei Boulevard-Blättern mit derartigem Narrativ nur gegen die eigene Irrelevanz anzukämpfen, dient das  jedoch vielmehr der eigenen Aufarbeitung. Griffey scheint das Kraft zu geben, seinen Fans sowieso. Der Fokus auf das Negative hat hier also gar positive Folgen.

Mehr Casper gibt es hier.

Und so hört sich das an:

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Casper live 2022:

05.05.22 München, Backstage Werk (ausverkauft)
07.05.22 CH-Bern, Bierhübeli (ausverkauft)
08.05.22 Tübingen, Sudhaus (ausverkauft)
09.05.22 Mannheim, Alte Feuerwache (ausverkauft)
10.05.22 AT-Wien, Arena (ausverkauft)
13.05.22 LU-Luxemburg, Den Atelier
14.05.22 Hannover, Capitol (ausverkauft)
15.05.22 Hamburg, Uebel & Gefährlich (ausverkauft)
16.05.22 Dortmund, FZW (ausverkauft)
18.05.22 Leipzig, Felsenkeller (ausverkauft)
19.05.22 Berlin, Metropol (ausverkauft)
21.05.22 Köln, Carlswerk Victoria (ausverkauft)
22.05.22 Münster, Skaters Palace (ausverkauft)
23.05.22 Bremen, Modernes (ausverkauft)

27.11.2022 Leipzig, Haus Auensee
29.11.2022 Stuttgart, Porsche-Arena
30.11.2022 CH-Zürich, Halle 622
01.12.2022 Frankfurt am Main, Jahrhunderthalle
03.12.2022 Hamburg, Sporthalle
05.12.2022 München, Zenith
06.12.2022 AT-Wien, Gasometer
09.12.2022 Bochum, RuhrCongress
10.12.2022 Münster, Halle Münsterland
13.12.2022 Köln, Palladium
14.12.2022 Hannover, Swiss Life Hall
16.12.2022 Berlin, Max-Schmeling-Halle

Die Rechte für das Cover liegen bei Eklat Tonträger.

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